Was bedeutet eigentlich „systemisch“?

von | Feb 12, 2021

Wenn mir in der Vergangenheit die Frage nach meinem Wirkungsfeld gestellt wurde, fiel es mir häufig schwer, den Begriff „systemisch“ anschlussfähig zu beschreiben. Natürlich finde ich dafür passende Formulierungen wie „komplexe Wirkungszusammenhänge betrachten“, „Beziehungsdynamiken in den Fokus nehmen“, und „die Dinge in ihrem Gesamtkontext sehen“, doch die Fragezeichen in den Augen meiner Gesprächspartner haben mir so manches Mal ein sehr deutliches „HÄ??“ zurückgespiegelt. Was genau soll das denn jetzt bedeuten für die Arbeit mit Menschen, Teams und Organisationen?

Der systemische Blick

Vor einiger Zeit war ich einmal wieder beim Osteopathen. Anlass meines Termins war – der Klassiker – ein zuvor erfolgloser Besuch beim Orthopäden, der mir, nach sofortiger Erstellung eines Röntgenbildes und einem unauffälligen Ultraschall, auf Verdacht eine Spritze ins Hüftgelenk setzte und mich nachhause schickte. Diese Prozedur verschlimmbesserte meine Beschwerden allerdings und ich erinnerte mich an einen Osteopathen, der mich vor Jahren schon einmal erfolgreich wegen einer anderen Geschichte therapiert hatte. Also machte ich einen Termin. Nachdem der Osteopath – nennen wir ihn Dominik – mich ausführlich von oben bis unten – ganzheitlich eben – gecheckt hatte, fing er mit der Behandlung an und wir begannen uns währenddessen über sein Metier zu unterhalten.

„Weißt du“, sagte er, „ich kann von außen häufig erst einmal gar nicht sehen was genau die Ursache deiner Schmerzen ist und wo sie liegt. Was ich aber weiß ist, wie die Muskelstränge, das Gewebe, die Sehnen und die Nerven miteinander verbunden sind und zusammenspielen. Und wenn es an einer bestimmten Stelle weh tut heißt das nicht, dass der Schmerz unbedingt genau dort seine Ursache hat. Also fange ich an den Punkten an zu arbeiten, die ich aus meinem Wissen und meiner Erfahrung heraus als relevant im Hinblick auf eine Verbesserung einschätze. Ich habe natürlich eine Idee, welche Auswirkung das was ich tue voraussichtlich hat, aber ich kann es nie ganz sicher vorhersagen. Dafür ist das System ´Körper` viel zu komplex, denn alles hängt mit allem zusammen.“

Wenn ich mich nicht schon vorher tierisch geärgert hätte, dass ich überhaupt zum Orthopäden gegangen war, hätte ich spätestens jetzt damit angefangen… Denn das was Dominik mir beschrieb war exakt das, was den Begriff „systemisch“ ausmacht.

Systemische Beratung vs. systemische Intervention?

Wir unterhielten uns weiter und ich merkte immer deutlicher, dass unsere beiden Berufe tatsächlich ganz viel Ähnlichkeit miteinander haben. Und dass der Begriff „Beratung“ an vielen Stellen streng genommen sogar total fehl am Platz ist.

Denn wenn ich „systemisch“ auf die mir in meinem beruflichen Umfeld begegnenden Themen blicke, habe ich häufig gar nicht die Möglichkeit zu „beraten“ im Sinne von „einen Rat geben“. Dies würde ja implizieren sofort zu verstehen und sicher zu wissen, welches Problem genau besteht und wo seine Ursache liegt, und dass ich lediglich den passenden Rat geben müsste, der gleichzeitig die Lösung dieses Problems wäre. Und diese Denkweise widerspricht ja eben genau der Bedeutung von „systemisch“, die gerade nicht davon ausgeht, dass ich es mit kausalen Ursache-Wirkung Zusammenhängen zu tun habe. Viel passender wäre also, anstelle von systemischer Beratung von „systemischer Intervention“ zu sprechen.

Denn genau wie Dominik aus seinem Wissen und seiner Erfahrung schöpft, und dann eine Entscheidung trifft, wo und wie er mit der Therapie beginnt, tue ich in meiner eigenen beruflichen Praxis genau dasselbe. So wie jeder Körper individuell ist, ist es auch jeder Mensch als Ganzes, jedes Team, und jede Organisation. Natürlich unterliegen ihre Wirkungszusammenhänge und Dynamiken gewissen Regeln und Prinzipien, die ich kennen muss, damit ich die relevanten Stellschrauben erkenne. Und gleichzeitig kann ich niemals ganz sicher wissen, welchen Effekt das was ich tue genau haben wird. So wie Dominik den Heilungsprozess des Körpers anstößt und begleitet, tue ich das in Veränderungsprozessen. Auch hier ist eine frühe Frage zu Beginn immer die nach dem Schmerzpunkt – wo liegt er und wer hat ihn.

Was hilfreich ist kann auch mal wehtun

Natürlich kann es vorkommen, dass sehr schnell und ziemlich deutlich sichtbar wird, wo der Ansatzpunkt für das Finden einer möglichen Lösung liegt. In der Osteopathie gibt es so genannte „Triggerpunkte“. Das sind Punkte, die deutlich zu fühlen oder sehen sind, und die – wenn man ordentlich reindrückt – zwiebeln wie Hölle. Auch hier brachte Dominik es wieder gut auf dem Punkt: „Ich kann das jetzt natürlich Termin für Termin weiterbearbeiten, und dann wird sich vermutlich auch irgendwann beginnen etwas zu lösen. Wenn die Anzeichen wo deine Beschwerden vermutlich herkommen allerdings so deutlich sind, kann ich gezielt an diesen Triggerpunkten arbeiten. Das ist zwar unangenehm und manchmal auch schmerzhaft, führt aber in der Regel schneller zu einer Verbesserung.“ Ja, und auch das gibt es in meinem Kontext: ich kann, wenn ich sie erkenne, auf sich zeigende Triggerpunkte hinweisen und gezielt an diesen arbeiten. Das ist durchaus unangenehm oder schmerzt sogar, und gleichzeitig liegt dort viel Potenzial für (Er-)Lösung.

Die Bedeutung der inneren Haltung

Wenn ich mich hier gerade so selbst beim Schreiben beobachte, liest sich das alles durchaus ein wenig dramatisch. Und genau deshalb ist eines in der Arbeit mit Systemen besonders wichtig: die eigene innere Haltung! Und auch hier haben Osteopathie und systemische Interventionen (wobei Osteopathie selbst ja auch aus einer Aneinanderreihung systemischer Interventionen besteht) vieles gemeinsam.

Zunächst einmal braucht es Geduld, denn jede Intervention braucht Zeit, um vom Gesamtsystem verarbeitet zu werden. Deshalb renne ich auch nicht alle 2 Wochen zum Osteopathen, terminiere zwei Coachings mit derselben Person in einer Woche, oder reihe einen Workshop fast nahtlos an den nächsten.

„Echte“ und somit wirksame systemische Interventionen lösen eine Kette von Impulsen aus, die erst einmal wirken und vom System verarbeitet werden müssen. Das System richtet sich sozusagen neu aus. Und erst dann gilt es genau hinzuschauen was sich verändert hat und was ein nächster Schritt sein könnte.

Und es braucht Behutsamkeit. Nur weil Dominik einen Triggerpunkt gefunden hat, rammt er mir nicht gleich ungefragt die Nadel in die Schulter. Stattdessen erklärt er was er erkannt hat, warum es sich lohnt damit zu arbeiten, wie er das macht, und welchen Effekt das seiner Erfahrung nach hat. Wenn ich das nachvollziehen kann und ihm vertraue, darf es dann auch weh tun. Manchmal sagt er mir allerdings vorher auch nicht genau was passieren wird, O-Ton: „Wenn ich dir vorher gesagt hätte ´Achtung jetzt scheppert‘s aber so richtig`, hättest du gegengehalten.“ Klar hätte ich das, wenn ich vorher gewusst hätte, dass es sich gleich anfühlt als kriege ich den Kopf abgerissen.

Und auch so etwas gehört zu meinem Job: nur weil ich erkenne was hilfreich sein könnte falle ich nicht immer direkt mit der Tür ins Haus, lege den Finger in die Wunde, oder lasse die Bombe platzen. Stattdessen nehme ich wahr was ist und entscheide bewusst was ich wann tue oder lasse. Denn – systemisch oder nicht – als Beraterin und Facilitatorin trage ich auch eine große Verantwortung. 

Und so könnte ich an der Stelle noch ewig weiterschreiben…, doch ich merke gerade, dass die innere Haltung und ihre Bedeutung definitiv einen separaten Beitrag verdient haben. Und ich wollte ja auch nur mit euch teilen, mit welchen Worten und welcher Analogie ich die Arbeit mit Systemen nun vielleicht verständlicher beschreiben kann. Dass ich darauf nicht schon früher gekommen bin… naja, next time 🙂

© Text: Michaela Meyer, © Bild: Karin Wiesenthal