Helfen oder hilfreich sein ? – Der Beitrag von „online“ zu nachhaltiger Veränderung
Freitag, 09. April, 17:12 Uhr
Gemeinsam mit einer Kollegin telefoniere ich mit einer Kundin. Wir haben uns für eine Auftragsklärung verabredet und es geht um Purpose, Vision, Zielbild, Wertschöpfung, Führungsverständnis und eine individuell zugeschnittene Leadership Journey. Die Kundin kennt uns und unsere Arbeit bereits aus einem anderen Prozess im selben Unternehmen zu Beginn des Jahres. Sie schätzt unsere Arbeitsweise, die Tiefe des erlebten Dialogs und die Konkretheit und Umsetzbarkeit der Ergebnisse.
Samstag, 10. April, 10:57 Uhr
Ich sitze im Wohnzimmersessel mit meinem Laptop auf dem Schoß und arbeite an dem Angebotsentwurf. Ich habe richtig Lust auf den Auftrag! Die Gedanken fließen und ich haue nur so in die Tasten. Das Angebot schreibt sich fast „von selbst“ und ist in einem Rutsch so gut wie fertig. Ich bin total im Flow…
Samstag, 10. April, 12:29 Uhr
Ich bin im Badezimmer und höre Radio. Es geht wieder einmal um Corona: Um die Verteilung des Impfstoffs, die Berechnung von Inzidenzen, den Unterschied in den Teststrategien zwischen Deutschland und Frankreich, und natürlich um den Lockdown. Wie aus dem Nichts entsteht plötzlich in meinem Kopf ein Connect und einige Puzzleteile meiner Beobachtungen und meines Erlebens der letzten Wochen fallen mit einem „Klick“ zusammen – wie ein Bild, das vorher irgendwie „blurry“ und nicht greifbar war und das ich auf einmal klar und deutlich sehen kann.
Was bisher geschah…
In den Wochen zuvor hatte ich einige geniale Momente, in denen ich sehr deutlich gespürt und erlebt hatte, wie viel wirksamer manche Prozesse in meiner Praxis auf einmal wurden. Wie selbst punktuelle Workshops mit einer Dauer von 90 Minuten bis 4 Stunden, die dann auch noch online durchgeführt wurden, eine Akzeptanz und Kraft entfalteten, die diesem Format vermutlich wenige zugetraut hatten und vermutlich immer noch zutrauen.
Obwohl ich schon im Jahr zuvor die Erfahrung gemacht hatte, dass Nähe, Verbundenheit, Tiefe und Intensität auch online möglich sind, überraschte mich diese sehr spürbare und sichtbare Entwicklung der Menschen und Themen von Session zu Session dann doch tatsächlich auch selbst ein bisschen.
Parallel hatte ich in den letzten Wochen schon einige Male mit einer Kollegin über unsere – gemeinsamen wie individuellen – Erlebnisse mit solchen Online-Prozessen gesprochen, und darüber gebrainstormed, was das z.B. für die Zukunft von Angeboten zur Führungskräfteentwicklung bedeuten könnte…
Von Nähe und Distanz in der Prozessbegleitung
Flashback Sommer 2020: Ich erinnere mich noch gut an mein Modul 5 der Ausbildung zur CoCreative Facilitatorin, in dem es um systemische und agile Führung ging.
Bereits damals hatte ich die Erkenntnis, dass es tatsächlich in allen Facilitation- und Beratungsprozessen ein sehr großes Risiko gibt, in das Kundensystem hineingezogen zu werden. Das klingt vielleicht aufs erste Lesen etwas komisch, aber Hand aufs Herz: wie laut ist manchmal der Hilferuf des Kunden und wie groß die Verlockung, dem Wunsch nach Hilfe und Unterstützung durch intensiven Kontakt und vor Ort-Präsenz nachzukommen. Und wie häufig gerät man dadurch in einen durch ein internes Führungsvakuum beim Kunden entstehenden Sog.
Umso wichtiger ist es, sich bewusst und konsequent den Themen Haltung, eigene innere Klarheit und Ethik zu widmen, aber das soll nicht der Fokus dieses Beitrags sein…
Definitiv ist es in meiner Rolle als externe Prozessbegleiterin immer wieder aufs Neue eine Herausforderung, eine angemessene Balance zwischen Nähe und Distanz zwischen Kunde und mir selbst zu finden. Zwischen in Führung gehen und Loslassen. Zwischen Verantwortung übernehmen und Verantwortungsübernahme stärken. Zwischen Helfen und hilfreich sein.
Helfen oder hilfreich sein?
Ja, ganz genau! Da gibt es einen Unterschied und der ist nicht einmal sonderlich klein. Möchte ich helfen, indem ich in die Dynamik einsteige, mich reinknie, rettender Anker bin, etwas anbiete das fehlt? Oder möchte ich hilfreich sein, indem ich begleite, stärke, unterstützende Impulse und Formate zur Verfügung stelle, die Verantwortung für Veränderung und Gestaltung aber konsequent beim Kunden belasse?
Online-Formate als Katalysator für Nachhaltigkeit
Und nein, ich schweife nicht vom Thema ab. Denn genau das ist es was die neuen, durch die aktuellen Gegebenheiten fast alternativlosen Formate in der Breite ermöglichen, fast schon erzwingen: Ein punktuelleres Eintauchen in das Kundensystem, ein Erleben lassen von Methoden und Formaten die wirksam sind und neugierig auf mehr machen, ein präsent sein, ohne sich unverzichtbar zu machen, und ein „enablen“ und „empowern“, den Prozess zwischen den Haltepunkten selbst in die Hand zu nehmen, Verantwortung dafür zu übernehmen und zu gestalten.
Das gelingt natürlich nur, wenn ich online auch „kann“. Wenn ich weiß, wie ich Prozesse und Formate so gestalte, dass auch über Bildschirm und Glasfaserkabel eine Tiefe entsteht, in der „echte“ Erkenntnis möglich ist und wie das Erarbeitete eigenverantwortlich und nachhaltig in die Praxis transferiert werden kann. Und wenn ich das schaffe, entstehen für die Menschen ein Sog und eine Sehnsucht. Sie erleben die eigene Gestaltungskraft, dass sie etwas beitragen und verändern können und dass sie keine Berater brauchen um zu „machen“, sondern um den Prozess – auch energetisch – zu halten und zu „empowern“.
Natürlich wird dieses Arbeiten den direkten Austausch von Angesicht zu Angesicht nie ersetzen können. Und selbstverständlich vermisse auch ich den echten Kontakt, das vor Ort sein, das Spüren von Atmosphäre und Kultur vor Ort… und ich freue mich sehr auf die Zeit, in der das wieder möglich sein wird! Und gleichzeitig wünsche ich mir, dass Facilitation und Beratung in Zukunft mehr als stützende und hilfreiche Prozesse gedacht und umgesetzt werden, in denen das Kundensystem noch konsequenter Owner seiner Veränderung und Entwicklung sein kann. Online wie offline.
© Text & Bild: Michaela Meyer