Vom Dilemma zum Tetralemma – Neue Wege aus der Krise?

von | Apr 26, 2020

Gestern durfte ich Teil des zweiten Prototypen „Online-Systemaufstellung“ meiner lieben Kollegin Marion Quaas-Reinhard vom Team CoCreative Facilitation sein, und ich kann euch sagen, es war wirklich alles dabei: ein hochaktuelles Thema, das für mich neue Aufstellungsformat „Tetralemma“, tolle Menschen, und – ganz wichtig – viele spannende Erkenntnisse, von denen ich ein paar gerne an dieser Stelle mit euch teilen möchte.

Das Thema, dem wir uns einen halben Tag lang gewidmet haben, drehte sich um die Fragestellung „Welche sinnvollen Strategien und Möglichkeitsräume zeigen sich als Wege aus der Krise? Und was bedeutet das für das aktuell in der Gesellschaft so kontrovers diskutierte Dilemma zwischen der Notwendigkeit eines Shutdowns zum Gesundheitsschutz und der Notwendigkeit von Lockerungen als Basis der Existenzsicherung?“

Kontexterweiterung durch System-Aufstellungen

Kern des „Tetralemmas“ als eines von zahlreichen Formaten für systemische Aufstellungen ist die Erweiterung des Dilemmas zwischen „Das Eine“ (Gesundheitsschutz) oder „Das Andere“ (Existenzsicherung) um die zusätzlichen Perspektiven „Ein Beides“ und „Keins von Beiden“, sowie das freie Element „All dies nicht und selbst das nicht!“. Klingt abstrakt, und das ist es ehrlich gesagt auch ein bisschen. Und dennoch zeigt sich in der Praxis immer wieder, dass diese Multiperspektivität den Möglichkeitsraum erweitert und den Blick für einen größeren Kontext jenseits des Dilemmas öffnet. Wenn ihr mehr zum Thema Systemaufstellungen erfahren möchtet, findet ihr hier eine tolle Übersicht: http://www.lifeinform.de/systemische-organisationsaufstellun-1

Loslassen als Basis für den Neustart

Eine für mich wesentliche Erkenntnis des gestern Erlebten ist, dass wir als Gesellschaft noch lange nicht an dem Punkt angekommen sind, an dem wir uns bewusst von der Normalität wie wir sie bis vor einigen Wochen kannten verabschieden können. Die meisten von uns wünschen sich ein „back to normal“ und wir haben eine große Sehnsucht in uns, endlich in unser „altes Leben“ zurückkehren und „weitermachen“ zu können.

Aber dieses Leben wie wir es kannten gibt es nicht mehr. Und erst wenn ein Großteil unserer Gesellschaft diese Wahrheit akzeptiert und annimmt, entsteht eine gemeinschaftliche Basis für die Gestaltung eines „new normal“ in der Zukunft.

Wir vermissen viele Dinge aus der Zeit vor dem Ausbruch von Covid-19. Gleichzeitig haben wir die ersten Veränderungen liebgewonnen, genießen vielleicht die Entschleunigung und die neue Arbeitszeitflexibilität, die sauberer gewordene Luft oder den Spaziergang in der Mittagspause… Wie wäre es, den Gedanken loslassen zu können, wieder zurück in die Vergangenheit zurückkehren zu wollen, und stattdessen unser ganzes Potenzial darauf verwenden würden das „Neue“ aktiv zu gestalten?

Co-Kreativität für das Gestalten neuer Lösungen

Eine weitere Erkenntnis, die sich gezeigt hat, war der Gedanke weg von dem bekannten Satz „Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht“ hin zu „Wenn jeder an einen anderen denkt, ist an alle gedacht.“  Und tatsächlich, womit beschäftigen wir uns denn den ganzen Tag? Berater, Coaches und Trainer überlegen was sie tun können um ihr Geschäft anzukurbeln, die Gastronomen versuchen neue Verkaufskanäle zu etablieren um trotz des Verlusts der primär über Getränke finanzierten Margen irgendwie über die Runden zu kommen, und eine Freundin – Lehrerin – erzählte mir erst gestern, dass in der Schule alles dafür getan wird um Abstände und Hygienevorschriften einzuhalten, und nach Schulschluss sammeln sich die Schüler im Pulk vor dem Büdchen gegenüber. Wir leben alle in unserer jeweiligen „Bubble“ und sehen unseren eigenen Schmerz und unsere eigenen Schwierigkeiten. Und wir versuchen, irgendwie heil aus dieser Geschichte herauszukommen. Wir schauen nicht auf die anderen. Aber ich kann noch so lange versuchen meine eigene Nasenspitze zu sehen, es wird mir niemals gelingen.

Wie wäre es, wenn wir unsere Bubbles verließen, den Blick erweiterten, und unser Wissen und unsere Gedanken noch viel mehr dafür einsetzten, andere auf ihrem Weg in die neue Zukunft zu unterstützen? Andere Menschen aus einem fremden Kontext durch das Einbringen unserer Perspektive bei ihrer ganz individuellen Lösungsfindung im Umgang mit der Krise zu unterstützen – das wäre Co-Kreativität in ihrer reinsten Form.

Die Krise als Katalysator für Entwicklung

Meine dritte Kernerkenntnis des gestrigen Tages – so banal sie auch klingt – ist, dass die Krise uns nur einen Spiegel vorhält. Uns zeigt wer wir sind, wie wir agieren, und auf welche Dinge wir noch viel mehr und vielleicht aus einer ganz neuen Perspektive schauen müssen. Die aktuelle Situation ist eine Grenzerfahrung, für jeden Einzelnen von uns als Phase in seinem Leben, aber auch für die Gesellschaft als Ganzes. Und wir sind schon mittendrin in der Veränderung! Genau wie es kein „back to normal“ mehr gibt, wird der immer schneller werdende Wandel ein immer größerer Teil unseres Alltags werden. An vielen Stellen – im geschäftlichen Kontext wie auf privater Ebene – ist jetzt schon ein Umdenken zu beobachten. Für mich fühlt es sich gerade an wie zu Beginn einer langen Reise. Ich sitze im Flieger, es gibt kein Zurück mehr, und ich hab eine ganz grobe Vorstellung im Kopf wie der unbekannte und weit entfernte Ort an den ich reise wohl sein könnte: wie er aussieht, wie er riecht, wie er sich für mich anfühlt… aber ich bin neugierig und gespannt, und meine Zuversicht, dass ich das jetzt noch Unbekannte liebgewinnen werde, ist ungetrübt.

Wie wäre es, wenn wir akzeptierten, dass der Wandel, in dem wir uns gerade befinden eine solche Reise ist? Eine Reise, die vielleicht nicht nur eine Antwort auf etwas ist, sondern selbst der Zweck. Und wenn diese Krise „vorbei“ ist? Wird der Prozess unserer gesellschaftlichen Entwicklung wieder langsamer werden oder sogar aufhören? Brauchen wir dann eine neue Grenzerfahrung als Katalysator um weiterzumachen? Oder haben wir es bis dahin geschafft, Dialog, Perspektivwechsel und gegenseitige Unterstützung in einer Form zu etablieren, dass wir unsere eigene Weiterentwicklung immer stärker auch aus uns selbst heraus gestalten können?

Der Placebo-Effekt

Jetzt hätte ich es fast vergessen: das sechste Element, das wir in unsere Aufstellung mit aufgenommen haben, nachdem wir festgestellt hatten, dass noch irgendetwas fehlt. Eine Art Eremit, ein Weiser, eine neutrale, absichtslose Instanz… Wir waren uns einig was wir meinten, konnten es aber nicht konkret benennen. Also tauften wir dieses Element Yoda – die unbekannte Spezies. Als Ressource des freien Elements „All dies nicht und auch das nicht!“ hat Yoda uns viel gelehrt, vor allem aber hat er eines beigetragen: eine glasklare und unerschütterliche Zuversicht, dass die Gesellschaft ihren Weg finden und gehen wird.

Aus der Placebo-Forschung kennen wir diesen Effekt, dass allein der Glaube und die Zuversicht an uns und unsere Fähigkeiten die in uns schlummernden Potenziale und Selbstheilungskräfte aktivieren kann. Wieso nicht auch jetzt?

© Text & Bild: Michaela Meyer